Magazin · Tierschutz aktiv · 6. August 2021 · 2 Min. Lesezeit
Der Waldengel von Istanbul
Tugay Abukan ist Tierschützer mit Leib und Seele. Täglich sieht er großes Leid: Fast verhungerte und verletzte Hunde, ausgesetzte Welpen und schwache Tiere, die stark misshandelt wurden. Bekannt wurde Tugay unter dem Spitznamen Orman Meleği, das bedeutet Waldengel. Wie er zu diesem Namen kam und was ihn antreibt, liest du in diesem Beitrag.
Nicht nur das mitgebrachte Futter, sondern auch die Nähe zu Tugay ist den Waldhunden wichtig. Sie suchen seinen Kontakt und genießen jede Streicheleinheit. Foto: Waldengel - Orman Meleği e. V.
Tag für Tag setzt sich Tugay Abukan in seinen weißen Transporter und macht sich auf den Weg Richtung Wald. Seine Hunde warten schon auf ihn. An den Futterstellen wird er mit Schwanzwedeln begrüßt. Jeder Hund möchte gestreichelt und beachtet werden. Die meisten der im Wald lebenden Vierbeiner hatten früher ein Zuhause und genießen die menschliche Nähe sehr. Als sie im Leben ihrer Menschen keinen Platz mehr hatten, wurden sie hier in den Wäldern einfach ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen.
Der Held der Hunde
Aus seinem Wagen lädt Tugay das Hundefutter aus. Wie viel es ist und ob es für alle Hunde reicht, variiert täglich, denn als Tierschützer ist Tugay auf Spenden angewiesen und meist ist das Futter für seine Hunde knapp. Aus alten Schubladen fressen die Hunde genüsslich ihr Futter, während Tugay ihnen Wasserschalen auffüllt und sie begutachtet: Ist ein Hund verletzt oder wirkt schwach, nimmt der Tierschützer ihn mit in die Tierklinik, wo er auf seine Kosten versorgt wird. Entdeckt Tugay ein neues Tier im Rudel, wird es kastriert, damit keine Welpen im Wald geboren werden, die kaum Chancen hätten zu überleben.
Noch lange laufen die Hunde Tugays Auto hinterher, wenn er wieder aufbricht. Eine Hündin rannte sogar einmal über zwei Kilometer neben dem Transporter, weil sie unbedingt bei Tugay bleiben wollte. Doch so schwer es Tugay auch fällt – alle Hunde kann er nicht mitnehmen.
Einige haben Glück und können von Tugay und seinen wenigen Helfer:innen in ein schönes Zuhause vermittelt werden. Neben seinen Waldhunden kümmert sich Tugay noch um einige Straßenkatzen und auch um Hunde, die für illegale Hundekämpfe missbraucht wurden. Er führt Workshops an Schulen durch und klärt junge Menschen darüber auf, dass Tiere mit Respekt behandelt werden müssen. Im Interview erzählt uns Tugay Abukan von seiner Vision und dem Leben der Hunde in den Wäldern Istanbuls.
Tugay und sein kleines Team sind die einzigen, die die schutzlosen Hunde im Wald versorgen. Bei ihrer Ankunft an den Futterstellen ist die Freude der Vierbeiner groß. Foto: Waldengel - Orman Meleği e. V.
Lieber Tugay, du bist als der Waldengel bekannt. Wie kamst du zu diesem Spitznamen?
„Diesen Spitznamen haben mir die Social-Media-Follower gegeben.“
Der Name ist ja auch sehr passend, weil du dich um die hilflosen Hunde im Wald kümmerst. Wie bist du auf diese Idee gekommen?
„Ich wurde 1979 geboren. Seit ich klein war, habe ich in meiner Heimat immer viele Straßenhunde gesehen. Als junger Mann fuhr ich eines Tages mit meinem Motorrad über eine Forststraße und sah einen schwachen Hund, der etwas zu fressen versuchte. Ich wurde neugierig und blieb stehen, weil ich sehen wollte, was der Hund fraß.
Als ich genau hinsah, sah ich, dass der Hund versuchte, einen Igel zu fressen. Er war so hungrig, dass er versuchte, den Igel zu fressen, ohne auf die Verletzung seines Mauls zu achten, was mich so sehr berührte, dass ich im nächsten Lebensmittelladen Salami, Wurst, Käse kaufte, zurückfuhr und alles dem Hund gab.
Plötzlich kamen fünf, dann zehn, 15, 20 und dann immer mehr Hunde angelaufen. Von diesem Tag an ging ich jeden Tag dorthin und fing an, diese streunenden hungrigen Tiere zu füttern. Ich verstand, dass es nicht möglich war, einfach nur Essen zu geben. Ich begann, Wasser zu tragen. Ich überlegte, was sie in den Wintermonaten machen würden und versuchte, selbst Hütten zu bauen. Als mir klar wurde, dass ich das alleine nicht schaffen kann, habe ich es in den sozialen Medien geteilt und um Unterstützung gebeten. Dann fingen alle an, mich den Engel des Waldes zu nennen.“
Wie ist die Situation in Istanbul in Bezug auf Straßentiere?
„Während die Zahl der Straßenhunde in der Innenstadt von Istanbul von Tag zu Tag abnimmt, sind die Wälder voller Hunde. Sie sind an das Leben in der Stadt gewöhnt und können allein in der Wildnis nicht überleben. Die meisten Tiere wurden im Wald ausgesetzt und im Stich gelassen.
Laut den Zahlen der Stadtverwaltung leben in Istanbul schätzungsweise 130.000 streunende Hunde und 125.000 streunende Katzen, insgesamt also etwa 255.000 Straßentiere.
Es gibt kein Istanbul mehr, das Tieren einen Lebensraum bietet. Früher hatten alle Nachbarn Haustiere, heute nicht mehr. Wenn Hündinnen Junge bekommen, werden sie mit den Welpen einfach im Wald ausgesetzt. Im Winter erfrieren sie sofort.“
Versorger, Freund, Begleiter: Tugay steht seinen Hunden immer zur Seite - auch bei Besuchen in der Tierklinik. Foto: Waldengel - Orman Meleği e. V.
Warum ist das Leben für die freilebenden Hunde in den Wäldern so hart?
„In den Waldgebieten rundum Istanbul wimmelt es von Katzen und Hunden, die die meiste Zeit in der Stadt an menschliche Liebe gewöhnt waren. Wenn sie uns im Wald sehen, wollen sie Liebe. Sie sind keine wilden Tiere. Es ist sehr schwer für sie, in den Wäldern ohne Schutz zu leben. Der Winter ist sehr hart und der Sommer sehr heiß.“
„Die Hunde sind hungrig – besonders nach Liebe.“
Bei deiner Arbeit mit den Hunden erlebst du sicher viele Rückschläge. Was belastet dich am meisten?
„Mich belastet am meisten, wenn ich ein krankes oder verletztes Tier nicht retten kann. Das bereitet mir schlaflose Nächte.“
Was ist dein persönlicher Antrieb?
„Seit ich in den Wald gegangen bin, entferne mich immer mehr von den Menschen. Ich habe gesehen, dass wahre Liebe Tierliebe ist. Tiere geben bedingungslos Liebe, auch wenn du ihnen jeden Tag Essen gibst und zwei Tage lang ohne Essen zu ihnen gehst.“
Den weißen Transporter erkennen die Hunde schon von Weitem. Sie freuen sich auf Wasser, Futter und besonders die Streicheleinheiten von Tugay Abukan. Foto: Waldengel - Orman Meleği e. V.
Du kümmerst dich auch um Hunde, die für Hundekämpfe missbraucht wurden. Bei uns in Deutschland ist das Thema nicht sehr bekannt. Was passiert mit den Hunden?
„Hundekämpfe sind auch in der Türkei verboten und strafbar. Es gibt aber einige illegale Gruppen, die diese Kämpfe veranstalten. Leider erfahren die Behörden und wir Tierschützer von diesen Kämpfen nicht, da diese streng geheim gehalten werden. Wenn ein Hund nicht mehr kampfähig ist, wird er ausgesetzt und hilflos zum Sterben verurteilt.“
Mit deinen Hunden erlebst du sicher viele tragische Geschichten. Gibt es eine schöne Happy-End-Story, die du mit uns teilen möchtest?
„Zum Glück erfahre ich viele Happy-End-Storys. Eine davon ist ein Hund namens Güclü, der einen circa vier Kilogramm schweren Tumor an seinem Hals hatte und auf der Straße nach Futter suchte. Ihn habe ich sofort mitgenommen und in die Tierklinik gefahren. Nach zwei Jahren harter Behandlung, lebt er jetzt genesen in unserer Obhut. Jedes von Verletzungen und Krankheiten geheilte Tier oder ein Tier, das durch uns ein liebevolles Zuhause findet, ist für mich eine Happy-End-Story.“
Was möchtest du in Zukunft für die Tiere bewirken? Gibt es eine Vision?
„Für die Tiere möchte ich auf jeder Straße, jedem Bürgersteig und jedem Wahrzeichen Lebensräume, Hütten und Wassernäpfe schaffen. Ich möchte den Menschen beibringen, dass streunende Tiere genauso viel Recht haben, auf der Erde zu leben, wie wir das Recht haben. Ich arbeite weiter daran, diese Ideen zum Leben zu erwecken.
In Schulen setzen wir unsere Projekte fort, um Kindern die Liebe zu Tieren zu vermitteln. Leider haben wir nur wenige Unterstützer und Spender, und wir erhalten keine finanzielle Unterstützung von der Regierung. Unser Schwesterverein Waldengel – Orman Meleği in Frankfurt unterstützt diese Tiere, aber wir brauchen täglich circa 150 Kilo Futter und es fällt uns schwer, dies vor allem im Winter zu bewältigen.“
Vielen Dank für das Gespräch, Tugay.
Tierschützende wie Tugay Abukan geben tagtäglich alles, um das Leid auf den Straßen der Türkei zu lindern, doch benötigen dringend Unterstützung. Ohne Hilfe können sie die Versorgung der Tiere nicht stemmen.
Mit der Kampagne Hilferufe der Straßentiere sammeln wir gezielt Spenden für Futter und Kastrationsprojekte. Hilf jetzt mit und sorge mit uns dafür, dass die Straßentiere in der Türkei eine echte Chance bekommen.