Magazin · Tierschutz aktiv · 8. August 2024 · 5 Min. Lesezeit
Auf verlorenem Posten: Die große Not der Straßentiere in der Türkei
Millionen von Hunden und Katzen leben in der Türkei auf der Straße. Ihr Leid ist groß und das neue Gesetz bedroht sie noch weiter. Die Regierung hat die Straßentiere zum Problem erklärt und möchte sie loswerden. Dabei ist das Leid der Tiere menschengemacht. Wir klären auf.
Vielerorts sind die Straßentiere ungern gesehen. Ihr Leid wird ignoriert. Foto: VETO
Vielerorts in der Türkei gehören Straßentiere zum Stadtbild. Während Millionen von Urlauber:innen kommen und gehen, bleiben sie zurück.
Die Gäste des Landes schwärmen von tiefblauem Wasser, beeindruckenden Moscheen und bunten Basaren. Die Straßenhunde und -katzen kämpfen derweil jeden Tag ums Überleben.
Für die Straßentiere ist die Türkei kein Urlaubsparadies. Ihr Leben in diesem Land ist oftmals von großem Leid geprägt. Doch wie kam es dazu, dass es in der Türkei so viele heimatlose Hunde und Katzen gibt?
Warum gibt es in der Türkei so viele Straßentiere?
Nach Aussagen der Regierung leben derzeit rund vier Millionen Straßenhunde im Land. Hinzu kommen unzählige Straßenkatzen. Allein in Istanbul sollen über 100.000 von ihnen leben.
Mehrere Faktoren haben zu der hohen Population der Straßentiere geführt. Doch eins haben diese gemein: sie sind allesamt menschengemacht.
Bei Straßentieren handelt es sich um ehemalige Haustiere oder deren Nachfahren. Sie wurden ausgesetzt, als sie ihre angedachte Aufgabe nicht mehr erfüllen konnten, sie alt oder krank waren oder man ihrer einfach überdrüssig wurde – und das meist unkastriert. Die ausgesetzten Tiere vermehren sich schließlich auf der Straße unkontrolliert weiter.
Gerade in den ländlichen Gebieten werden auch die Haustiere oftmals ausschließlich draußen gehalten. Die meist unkastrierten Hunde sollen ein Grundstück oder eine Schafherde bewachen. Sie verbringen ihre ganze Lebenszeit draußen und können sich mit anderen Haustieren oder Straßentieren vermehren. Die ungewollten Welpen landen dann auf der Straße.
Obwohl bereits Millionen Tiere in der Türkei auf den Straßen leben, erzeugen die Hundezuchtbetriebe in den ländlichen Gebieten unentwegt neuen Nachwuchs. Die Züchter:innen wollen ihre Hunde meist ins Ausland verkaufen, haben jedoch nur allzu oft weniger Kund:innen als Welpen. Die Folge: Die übriggebliebenen Welpen verwildern und sorgen für weiteren Nachwuchs.
Mit flächendeckenden Kastrationen könnte dem Anstieg der Population der heimatlosen Tiere entgegengewirkt werden. Das bisherige Tierschutzgesetz der Türkei sah das auch vor. Straßenhunde sollten von den Kommunen gefangen, kastriert und wieder freigelassen werden. Allerdings kamen die Kommunen dieser Aufgabe wohl nicht ausreichend nach und es wurden nicht genug Tiere kastriert, um die Population einzudämmen. Die Konsequenz: immer mehr heimatlose Tiere und immer größeres Leid auf den Straßen.
„Die Population steigt von Tag zu Tag und ist nicht mehr ohne große Finanzierung zu stoppen. Die Städte müssten alle ein Tierheim haben, wo kastriert wird. Mamas mit Welpen müssten eingesammelt werden, die Mamas kastriert, geimpft und wieder an ihren Platz gebracht werden. Die Welpen müssen, bis man sie kastrieren kann, bleiben. Aber das sind hohe Kosten, die die Städte nicht tragen wollen.“
So leiden Straßentiere in der Türkei
Oftmals wird angenommen, dass die Straßentiere allein zurechtkommen. Doch ohne menschliche Unterstützung bedeutet das Dasein auf der Straße für viele das Todesurteil. Die Straßen und entlegenen Gegenden bieten den Tieren weder ausreichend Futter noch Wasserquellen. Meist sind die Tiere auf Müll und Abfälle angewiesen, die gefährliche Bestandteile enthalten können.
Bei der stetigen Suche nach etwas Fressbarem sind die heimatlosen Tiere der Witterung schutzlos ausgesetzt. Im Sommer drohen vielerorts in der Türkei extreme Hitze und Wasserknappheit. Im Winter hingegen sinken die Temperaturen in Teilen des Landes auf bis zu minus 20 Grad Celsius. Gerade die jungen und geschwächten Tiere haben hier kaum Chancen zu überleben.
Viele Menschen glauben, dass sich die Tiere auf der Straße selbstständig zurechtfinden und übersehen ihre Not. Foto: VETO
Die meisten der Tiere sind ohnehin gesundheitlich angeschlagen. Ohne Zugang zu regelmäßiger tierärztlicher Versorgung leiden die Straßenhunde und -katzen häufig an Krankheiten, Parasiten und Verletzungen.
„Krankheiten und Hunger breiten sich wieder aus. Vor allem die Mittelmeerkrankheiten Leishmaniose und Ehrlichiose, Räude und Viruserkrankungen wie Staupe und Parvo sind wieder auf dem Vormarsch. Kaum ein Hund kommt ohne eine dieser Erkrankungen von der Straße zu uns.“
Die Türkei gilt zudem als Hochrisikogebiet für Tollwut. Vonseiten der Regierung wird immer wieder die Gefahr betont, die dadurch von den Straßentieren ausgehe. Dabei könnte die Verbreitung von Tollwut durch flächendeckende Impfprogramme verhindert und die Gefahr für Tier und Mensch gebannt werden.
Für die vielen heimatlosen Tiere in der Türkei kommt eine weitere Gefährdung hinzu: der Straßenverkehr. Unzählige Straßentiere werden jährlich von Autos erfasst und schwer verletzt oder gar getötet.
Neben Futternot und Krankheiten stellen Menschen für die Straßentiere generell die größte Gefahr dar. Vor allem die Straßenhunde sind vielerorts ungern gesehen und werden als Belästigung oder Bedrohung angesehen. Sie werden vertrieben, Opfer von Misshandlungen, oder ihnen widerfährt noch Schlimmeres. Und das kürzlich beschlossene Gesetz verschärft die Lage der Tiere noch weiter.
Neues Gesetz in der Türkei: Straßenhunden droht der Tod
Im Juli 2024 wurde in der Türkei trotz heftiger landesweiter sowie internationaler Proteste ein neues Gesetz verabschiedet, das verheerende Folgen für die heimatlosen Hunde hat. Denn: Mit dem neuen Gesetz wurde der Weg zur Tötung der Tiere geebnet.
Das Gesetz verpflichtet die Kommunen, sämtliche Straßenhunde einzufangen und in Tierheimen unterzubringen. Hunde, die als krank oder aggressiv eingestuft werden oder eine „Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier“ darstellen, sollen eingeschläfert werden. Veterinäre sollen darüber entscheiden.
Es ist zu befürchten, dass das neue Gesetz unweigerlich zur Massentötung der Tiere führt, denn es gibt in den Tierheimen keinen Platz für die vielen Straßenhunde. Den vier Millionen Straßenhunden, die nach Aussage der Regierung im Land leben sollen, stehen gerade einmal 100.000 Tierheimplätze gegenüber. 1.200 der 1.389 Gemeinden in der Türkei besitzen Medienberichten zufolge überhaupt kein Tierheim.
Die Gesetzesänderung sieht zwar vor, dass die Gemeinden bis 2028 weitere Unterbringungsmöglichkeiten für die Tiere schaffen. Sämtliche Straßenhunde sollen jedoch so schnell wie möglich eingefangen werden.
Katastrophale Zustände in den staatlichen Tierheimen in der Türkei
Was mit den eingefangenen Straßenhunden passiert, ist unklar. Denn: Die wenigen vorhandenen kommunalen Tierheime im Land sind bereits vielerorts überfüllt. Die Chancen, in diesen Einrichtungen adoptiert zu werden, stehen für die Tiere derweil schlecht.
„Es gibt in unserer Gesellschaft kein Verständnis für die Adoption von Tieren aus Tierheimen. Diejenigen, die dies tun, sind sehr außergewöhnlich und wenige.“
Für die wenigsten Tiere bedeutet der Aufenthalt in einem der staatlichen Tierheime ein Zwischenschritt hin zu einem Leben in einer liebevollen Familie. Die Tierheime sind keine Orte der Fürsorge und Heilung nach dem Leben auf der Straße.
Tierschützer:innen berichten von Vernachlässigung und Misshandlungen. Die Tiere sollen in den kommunalen Einrichtungen längere Zeit sich selbst überlassen, kaum gefüttert oder medizinisch versorgt werden. Viele würden in den Zwingern sterben.
Die desaströsen Zustände, unter denen die Tiere dort leben müssen, haben wir auch selbst 2022 bei einem Besuch einer dieser staatlichen Einrichtungen gesehen:
„Das öffentliche Tierheim in der Türkei war wirklich erschreckend. Es waren unglaublich viele Hunde auf einem Platz. Die Hunde hatten keinerlei Unterschlupf. Sie standen in ihrem eigenen Kot und waren halb verhungert. Bei fast jedem Hund hat man die Rippen gesehen. Es war wirklich grausam.“
Die Hunde im kommunalen Tierheim sind bei unserem Besuch in einem jämmerlichen Zustand. Foto: VETO
Ob durch die sofortige Tötung oder in Folge der Vernachlässigung in den überfüllten Tierheimen. Fest steht: Durch Verabschiedung des neuen Gesetzes wartet auf unzählige Straßenhunde in der Türkei wohl der frühzeitige Tod. Und das, obwohl sich bereits vielerorts gezeigt hat, dass das nun per Gesetz vorgeschriebene Vorgehen in Bezug auf Straßentiere nicht wirksam ist.
Warum die Tötung der Straßentiere langfristig nicht zu einer geringeren Population führt
Das Einfangen und Töten der Straßentiere ändert nichts an der Ursache für die hohe Population und kann diese dementsprechend auch nicht reduzieren.
Denn: Ungewollte Tiere werden weiterhin ausgesetzt. Zuchtbetriebe sorgen unentwegt für Welpen, für die es oftmals keine Käufer:innen gibt und die größtenteils unkastrierten Straßentiere und Haustiere können sich unkontrolliert weiter vermehren.
Wenn nun Straßentiere eingefangen werden, werden die sonst hart umkämpften Plätze im Revier, inklusive Zugang zu den vorhandenen Ressourcen wie Trinkwasser, Nahrung und Rückzugsorte, frei.
Durch die freigewordenen Ressourcen können mehr Jungtiere überleben, ausgesetzte Haustiere besetzen die vakanten Plätze oder Straßenhunde aus benachbarten Gebieten siedeln sich an. Die Anzahl der Straßenhunde wird so nicht reduziert, im Gegenteil: Die Population steigt noch weiter an, da sich die Tiere untereinander paaren.
Diese Kettenreaktion kann nur verhindert werden, indem der Grund für die hohe Population der Straßentiere eingeräumt wird. Die Tiere müssen als fühlende Lebewesen und Teil der Gesellschaft anerkannt werden, für die der Mensch verantwortlich ist. Andernfalls werden unentwegt weitere ungewollte Tiere ausgesetzt.
Gleichzeitig bedarf es flächendeckender Kastrationen, um zu verhindern, dass immer neue Tiere in das leidvolle Leben auf der Straße hineingeboren werden.
Gegen alle Widrigkeiten: Aktiv als Tierschützer:in in der Türkei
Tierschützende vor Ort haben das erkannt und setzen sich unentwegt dafür ein, das Leid auf den Straßen zu mindern. Sie sind diejenigen, die Verantwortung übernehmen, wenn sich andere ihrer einfach entziehen. Sie sind für viele Straßentiere die letzte Rettung.
Tierschützenden wie Özlem Sahin haben viele Straßentiere ihr Leben zu verdanken. Die Tierschützerin ist täglich in ihrer Nachbarschaft in Istanbul unterwegs, um an Futterstellen zwischen 80 und 100 Straßenhunde zu versorgen. Kommen neue Tiere zu ihren Futterstellen, lässt Özlem sie kastrieren. Verletzte und krank wirkende Hunde werden tierärztlich behandelt.
Gerade in den Großstädten sind die Straßentiere oftmals ungern gesehen. Bereits vor Verabschiedung des neuen Gesetzes hat die Tierschützerin von Vorfällen berichtet, bei denen Straßenhunde in den Städten eingefangen und weggebracht wurden.
„Viele Menschen in der Türkei möchten Hunde nicht auf den Straßen sehen, besonders nicht in den Großstädten. Deshalb passiert es, dass in Nacht-und-Nebel-Aktionen Mitarbeiter der städtischen Tierheime die Straßenhunde einsammeln und sie irgendwo in den Wäldern aussetzen. Damit sie ohne Futter und Wasser dort irgendwann sterben.“
Genau das möchte Tugay Abukan verhindern. Der Tierschützer kümmert sich um die vielen Tiere, die in den Wäldern bei Istanbul ausgesetzt und im Stich gelassen werden. Er versorgt die ungewollten Hunde mit Futter und Wasser und lässt sie medizinisch versorgen und kastrieren. Tag für Tag ist er bei den Hunden im Wald. Die meisten von ihnen hatten früher ein Zuhause und suchen die Nähe von Tugay Abukan.
Er ist ihre einzige Hoffnung: Tierschützer Tugay Abukan gibt seit Jahren alles für die ausgesetzten Hunde im Wald. Foto: VETO
„In den Waldgebieten rundum Istanbul wimmelt es von Katzen und Hunden, die die meiste Zeit in der Stadt an menschliche Liebe gewöhnt waren. Wenn sie uns im Wald sehen, wollen sie Liebe. Sie sind keine wilden Tiere. Es ist sehr schwer für sie, in den Wäldern ohne Schutz zu leben. Der Winter ist sehr hart und der Sommer sehr heiß.“
Der Tierschützer tut alles, um die Tiere bestmöglich zu versorgen und ihnen Zuneigung zu schenken. Sein aufopferungsvoller Einsatz hat ihm zu dem Spitznamen Orman Meleği verholfen, was übersetzt „Waldengel” bedeutet.
Vollen Einsatz für die heimatlosen Tiere der Türkei leistet auch Babette Terveer. Als sie nach der Serie von Erdbeben im Februar 2023 in der Türkei und Syrien die Bilder der Zerstörung und des Leids sah, war für sie sofort klar, dass sie helfen muss. Bereits wenige Tage nach den Beben war sie gemeinsam mit einem Rettungsteam vor Ort in Antakya.
Die Tierschützer:innen haben unzählige Tiere aus den Trümmern geborgen und versorgt. Noch immer kümmert sich Babette Terveer mit ihrem Verein TSV Notpfote Animal Rescue um die verwaisten Haustiere und Straßentiere in der Region und führt Impfungen und Kastrationen durch. Denn nach wie vor ist die Not groß.
„Die Situation für Tiere in der Türkei, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023, ist katastrophal. Viele Tiere sind heimatlos, verletzt oder krank. Die Notpfote rettet Tiere aus den Trümmern, versorgt sie medizinisch und vermittelt sie in sichere Unterkünfte.“
So kannst du den Straßentieren in der Türkei helfen
Tierschützer:innen wie Özlem Sahin, Tugay Abukan und Babette Terveer geben tagtäglich alles, um das Leid auf den Straßen der Türkei zu lindern, doch benötigen dringend Unterstützung. Die Tierschützenden kämpfen oftmals allein auf weiter Flur, Tiere, die dringend Hilfe benötigen, gibt es dagegen unzählige.
Mit der Kampagne Hilferufe der Straßentiere sammeln wir gezielt Spenden für Futter und Kastrationsprojekte. Hilf jetzt mit und sorge mit uns dafür, dass die Straßentiere in der Türkei eine echte Chance bekommen.