Magazin · Tierschutz aktiv · 7. Februar 2022 · 5 Min. Lesezeit
Liebe statt Mitleid: Ein Handicap-Hund genießt das Leben
Tausende Tiere warten in Europas Tierheimen auf ein neues Zuhause. Unter ihnen sind auch viele Hunde mit körperlichen Einschränkungen. Durch eine Lähmung oder ein amputiertes Bein gelten die Vierbeiner als schwer vermittelbar. Doch wie ist es eigentlich, mit einem behinderten Hund zusammenzuleben? Im Interview erzählt uns Susanne Karrer, warum es sich lohnt, ein Handicap-Tier zu adoptieren.
Sportlich und voller Lebensfreude: Auch mit Rolli ist Dafne bei allen Aktivitäten mit dabei. Foto: privat
Kniehoher Schnee, traumhafter Ausblick und strahlender Sonnenschein. In dieser malerischen Kulisse tollen einige Hunde durch die Schneemassen. Eine hellbraune, mittelgroße Hündin scheint besonders viel Spaß zu haben: Wild springt sie in den Schnee und wieder hinaus. Ein echtes Energiebündel! Was man der Hündin nicht ansieht: Dafne ist teilweise gelähmt.
Susanne Karrer gibt Hunden mit und ohne Behinderung auf ihrer Pflegestelle in der Schweiz ein Zuhause und kümmert sich um all ihre Bedürfnisse. Ihr Ziel ist es, dass ihre Pflegehunde ein sicheres und liebevolles Für-Immer-Zuhause finden. Warum es ihr so wichtig ist, Handicap-Hunden zu helfen und was sie schon alles mit der schönen Hündin Dafne erlebt hat, erzählt Susanne uns im Interview.
Liebe Susanne, du lebst mit mehreren Pflegehunden zusammen. Erzähl uns doch mal von ihnen.
Ich lebe mit vier Handicap-Hunden zusammen: Lina ist eine „Old-Lady“ aus Thailand und gelähmt. Whisper ist ein Sloughi-Mischling aus Dubai. Wir hoffen, dass sie irgendwann wieder laufen kann. Grutzi ist mein Sonnenschein aus Rumänien, nicht wirklich gelähmt, sondern alles verkümmert. Sie kam damals über den Verein Amy’s Pfotenfreunde zu mir. Und natürlich Dafne aus Rumänien. Sie ist eine quirlige, teilweise gelähmte Hündin, die ebenfalls über Amy’s Pfotenfreunde e. V. den Weg zu mir gefunden hat.
Hinzu kommen noch vier Hunde ohne Handicap: Charly ist ein Ur-Opa aus Rumänien. Der Herdenschutzmischling wird auf etwa 16 Jahre geschätzt und ist seit Februar 2021 hier im Alterswohnsitz. Charly ist dement, hat Niereninsuffizienz und Arthrose. Benny ist ein traumatisierter Angsthund aus Spanien, etwa 12 Jahre alt. Er lebt schon seit sechs Jahren bei mir. Ella aus Rumänien ist circa zehn Jahre alt und seit Mai 2020 bei mir und Billy ist ein ängstlicher Hund aus Rumänien, der acht Jahre alt ist. Er lebt erst seit September mit uns zusammen.
Lass uns ein wenig über Dafne sprechen. Woher kommt sie und was weißt du über ihre Vergangenheit?
Dafne wurde ungefähr am 6. Februar 2019 in Rumänien geboren. Anfang Oktober 2019 fand eine Tierschützerin sie auf der Straße. Die junge Hündin konnte zu diesem Zeitpunkt nur noch kriechen. Dafne wurde sofort in Obhut genommen. Die Abklärung beim Tierarzt in Rumänien ergab, dass eine Rücken-Operation den gewünschten Erfolg bringen sollte, damit Dafne wieder laufen kann. Da sich in Deutschland eine Familie bereit erklärte, Dafne als Pflegestelle aufzunehmen, wurden durch den Verein Amy’s Pfotenfreunde Spenden für die Operation gesammelt und Dafne in Rumänien operiert.
Regelmäßige Termine bei der Hundephysiotherapeutin tun Dafne gut und sind wichtig für ihre Gesundheit. Foto: privat
Hat die Operation den gewünschten Erfolg gebracht?
Stunden nach der Operation sieht man erstaunlicherweise in einem Video Dafne stehen und wenige Schritte gehen. Der Tierarzt wollte, dass Dafne sofort nach der OP auf den Transport nach Deutschland geht und dort in die Physiotherapie kann. Dafne kam auf die Pflegestelle nach Deutschland. Dort wurde festgestellt, dass Dafne inkontinent ist. Die Pflegestelle konnte damit nicht umgehen und so kam Dafne im Februar 2020 als Notfall zu mir.
Da Renate Benz, die 1. Vorsitzende des Vereins Amy’s Pfotenfreunde, eine gute Freundin von mir ist und wir uns seit meiner ersten Aufnahme eines gelähmten Hundes im Jahre 2014 kennen, hatte ich die Geschichte von Dafne verfolgt und stand auch für Tipps zur Verfügung.
So kam Dafne zu dir in die Schweiz. Wie ging es dann weiter?
Hier ließen wir sie von einem Spezialisten untersuchen. Dafne konnte gehen, aber das rechte Hinterbein war steif, hat kaum Gefühl und dazu kommt die Inkontinenz. Er empfahl uns einerseits Akupunktur gegen die Inkontinenz und andererseits intensive Physiotherapie für das Bein. Von Beginn an sah er aber die Chancen für eine Genesung des Beines als gering. Ein MRI (Magnetresonanztomographie) oder CT (Computertomographie) hatte ich bis dahin nicht gemacht. Da ich immer davon ausging, dass Dafnes Bein geschont werden muss, lief sie zu der Zeit Spaziergänge im Rolli. Wir fanden eine Hundetrainerin, bei der wir mit Dafne trotz Rolli trailen konnten.
Das Glück sieht man ihr an! Rolli-Hund Dafne freut sich über ihre neu gewonnene Bewegungsfreiheit - auch, wenn sie bei den ersten Versuchen mal ins Wanken gerät. Foto: privat
2021 war ich mit ihr erneut beim Spezialisten. Dafne konnte ihr Knie nicht biegen und ich hatte den Wunsch, ihr Bein operieren zu lassen. Zuerst das Knie, dann allenfalls die Hüfte, sofern notwendig. Erneut machte mir der Tierarzt wenig Hoffnung und war auch nicht bereit, Dafne zu operieren. Seine Aussage war, dass ich sicher einen Tierarzt finde, der das macht, aber es werde ihr nicht helfen, da die Oberschenkelmuskeln zu vernarbt und verkürzt seien. Hinzu kommt die fehlende Tiefensensibilität, also das Fehlen von Reizen im Inneren des Körpers. Er war sehr ehrlich mit mir und ich bin heute froh, dass ich damals so gut beraten wurde.
Seine Empfehlung war, Dafne auch ohne Rolli laufen zu lassen und regelmäßig in die Physio zu gehen. Hierzu muss ich sagen: Dafne ist eine sehr quirlige, fröhliche und witzige Hündin mit Power ohne Ende.
Mein Kopf gab sich nicht mit mit diesem „Nein, eine Operation ändert nichts“ zufrieden. Beim nächsten Haustierarztbesuch fragte ich, ob er nicht mit seinen Spezialisten eine Operation abklären kann. Aber auch er winkte ab und empfahl vorerst ein MRI. Dies wurde dann bei einem Facharzt gemacht und war ernüchternd. Stauchungsfraktur des 5. Lendenwirbels. Für ihn kaum erklärbar, weshalb Dafne dennoch so gut gehen konnte.
Ein Power-Paket flitzt durch den Schnee. Heute kann Dafne sogar teilweise ohne Rolli toben. Foto: privat
Auf den Fotos wirkt Dafne sehr beweglich und vital. Wie geht es ihr heute?
Dafne läuft eine Stunde ohne Rollwagen, trailt auch ohne Rollwagen, rennt mit ihrem steifen Bein wie ein Flitzebogen und genießt so das Leben. Der Rollwagen wird für eine längere Strecke eingesetzt, wie zum Beispiel beim geplanten Spendenlauf diesen Sommer, den ich organisiere. Sollte das rechte Hinterbein irgendwann mal so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass es amputiert werden muss, wird sie ein Dreibein. Dafne soll ihr Leben genießen.
„Mitleid ist der falsche Weg um, einen Handicap-Hund aufzunehmen.“
Wie sollte Dafnes Traum-Zuhause aussehen und worauf sollte sich die neue Familie einstellen?
Grundsätzlich ist zu sagen, dass eine Vermittlung immer sehr schwer ist, wenn der Hund inkontinent ist. Eine Lähmung, ein Rolli oder ein steifes Bein sind keine Hindernisse, aber die Inkontinenz. Damit können sehr viele Menschen verständlicherweise nicht umgehen. Teppiche und Stoffbetten in einer Wohnung mit einem inkontinenten Hund sind ein Unding. Der Hund muss gewickelt werden. Ein Gang in ein Restaurant mit einem inkontinenten Hund? Hierzu gibt es vor der Vermittlung aber ein Informationsblatt, was alles auf einen zukommen kann und womit man sich auseinandersetzen muss, wenn ein gelähmter und inkontinenter Hund einzieht.
Handicap-Hunde wie Dafne benötigen mehr Zuwendung und Pflege als gesunde Tiere, doch sie geben ganz viel Liebe. Foto: privat
Ganz generell: Was muss man beachten, wenn man einen Hund mit Handicap aufnimmt?
Ein Handicap-Hund – egal mit welchem Handicap – ist ein Hund wie jeder andere Hund auch und benötigt seinen Auslauf, seine Bewegung, seine Aufmerksamkeit und Training. Was mich wütend macht, ist die Aussage „nun hat er es ja gut, er ist gerettet“. Gelähmte Hunde sind keine Couch-Potatoes, sondern wollen auch raus. Sie benötigen ein wenig mehr Pflege als ein gesunder Hund, aber im Wesen ist es ein Hund wie jeder andere. Ein Jagdhund bleibt ein Jagdhund – egal ob gelähmt oder nicht. Mitleid ist der falsche Weg, um einen Handicap-Hund aufzunehmen.
„Gelähmte Hunde sind keine Couch-Potatoes, sondern wollen auch raus.“
Du engagierst dich sehr für Hunde mit Handicap. Was ist das Wichtigste, was du zu diesem Thema mitteilen möchtest?
Seit Frühling 2021 habe ich mich auf gelähmte und inkontinente Hunde spezialisiert und den Verein grutzi.ch gegründet. Ich setze mich sehr dafür ein, dass Menschen mit Handicap-Hunden, die meistens inkontinent und gelähmt sind, unterstützt werden. Aber ich setze mich auch dafür ein, dass Handicap-Hunde mit sehr viel Lebensfreude durchs Leben gehen. Dafür organisiere ich im Sommer einen dreiwöchigen Spendenlauf.
Du stehst mit dem Verein Amy’s Pfotenfreunde in engem Kontakt. Was wünschst du dir von Tierschutzvereinen, die Handicap-Hunde vermitteln?
Fakt ist, dass Handicap-Tiere sehr oft vermittelt und Adoptanten danach alleine gelassen werden. Ich wünsche mir eigentlich vor allem Vereine, die mit Menschen, welche Handicap-Hunde aufnehmen, ehrlich kommunizieren und vor allem diese nicht alleine lassen, wenn sie Hilfe suchen. Leider passiert dies sehr oft.
Herzlichen Dank für das Interview, Susanne!
Mit ihrem Verein grutzi.ch macht Susanne Karrer sich stark für Hunde mit Handicap. In ihrer Auffangstation in der Schweiz gibt sie Notfällen wie Dafne ein vorübergehendes Zuhause und setzt sich öffentlichkeitswirksam für das Wohl der gelähmten und inkontinenten Hunde ein. Um noch mehr für ihre Hunde leisten zu können, absolviert Susanne aktuell sogar noch eine Ausbildung zur Hundephysiotherapeutin und Tierheilpraktikerin.