Magazin · Tierschutz aktiv · 8. August 2023 · 5 Min. Lesezeit
„Herdenschutzhunde ticken etwas anders" – Verhaltenstherapeutin Ines Grunwald im Interview
Bei der Aufnahme eines Herdenschutzhundes aus dem Tierschutz stoßen viele Menschen rasch an ihre Grenzen. Ines Grunwald ist Verhaltenstherapeutin für Hunde und unterstützt Menschen beim Zusammenleben mit diesen besonderen Vierbeinern.
In Tierheimen in Rumänien, Bulgarien oder auch der Türkei warten viele Herdenschutzhunde und deren Mixe auf ein artgerechtes Zuhause. Foto: VETO
Schon lange hat Ines Grunwald ihr Herz an Herdenschutzhunde verloren. Ihr Zuhause teilt sie mit Vertretern der italienischen Rasse Cane da Pastore Maremmano-Abruzzese und hat die großen, schneeweißen Vierbeiner in ihr Privatleben und ihre Arbeit perfekt integriert. Als Verhaltenstherapeutin für Hunde hilft sie Herdenschutzhundhalter:innen beim richtigen Umgang mit diesen gemütlich wirkenden Riesen. Ihr Know-How gibt sie als Dozentin an angehende Hundetrainer:innen weiter. Im Interview spricht Ines mit uns über die Besonderheiten dieser eindrucksvollen Rassen und erklärt, was es bei der Aufnahme eines Herdenschutzhundes aus dem Tierschutz zu beachten gibt.
Liebe Ines, bitte stell dich und deine Arbeit einmal kurz vor!
Ich bin Ines Grunwald, ich bin Verhaltenstherapeutin für Hunde mit Schwerpunkt auf offensiv agierende Rassen, also alles, was mit Aggressions- oder Stressverhalten zu tun hat. Unter anderem unterrichte ich am Deutschen Institut für Tierpsychologie und gebe Aufklärungsseminare. Meine persönliche Vorliebe sind Herdenschutzhunde. Ich arbeite mit diesen Hunden und meine eigenen Hunde gehen auch mit mir arbeiten. Sie begleiten mich zum Beispiel in Seminare, das haben wir ritualisiert.
Bei Ines Grunwald haben die beiden Hündinnen der Rasse Cane da Pastore Maremmano-Abruzzese ein liebevolles und artgerechtes Zuhause. Ihr Wissen über Herdenschutzhunde gibt die Verhaltenstherapeutin gerne weiter. Foto: privat.
Was kannst du uns zur Herkunft von Herdenschutzhunden im Allgemeinen erzählen und zu welchem Zweck wurden sie gezüchtet?
Es ist bekannt, dass es schon immer Hunde gab, die für und mit dem Menschen gearbeitet haben. Wir wissen auch, dass es in vielen Regionen der Erde Herdenschutzhunde gab und gibt. Es sind sehr, sehr alte Rassen. Es gibt Regionen, wo die Menschen mit Herden von Nutztieren gelebt haben, zum Beispiel Schafe und Ziegen in Bergregionen.
Dort gibt und gab es Hütehunde, die die Herden von A nach B getrieben haben, und dann gibt es eben noch Herdenschutzhunde. Das sind große, kräftige „Schlappohrhunde„, die mit viel Imposanz die Herden beschützen – vor allem dann, wenn der Hirte gerade nicht da ist, zum Beispiel in der Nacht, wenn Beutegreifer unterwegs sind. Das sind der Wolf, der Schakal oder auch der Bär. In Regionen, in denen diese Beutegreifer angesiedelt sind, haben die Herdenschutzhunde ihren Ursprung.
Oft ist in der Rassebezeichnung auch schon die Herkunft enthalten wie beim Pyrenäenberghund. Diese alten Rassen sind dafür gemacht, selbstständig die Nutztierherden zu beschützen – besonders dann, wenn der Mensch nicht vor Ort ist.
Über die Optik hast du uns jetzt schon ein wenig erzählt. Wie sieht es denn mit den Charaktereigenschaften der Hunde aus?
Für den Herdenschutzhund, der ja etwas beschützen muss, ist typisch, dass er sehr präsent ist. Er hat ein ausgesprochenes Imponierverhalten und agiert auch offensiv, das heißt, dass er in einer für ihn bedrohlichen Situation erst einmal nach vorne geht und demonstriert und imponiert. Der Herdenschutzhund möchte gehört und gesehen werden.
Er nimmt etwas wahr, was aus seiner Sicht nicht in sein Umfeld gehört, und wird dies dann verbellen. Herdenschutzhunde sind sehr bellfreudig. Er macht sich sehr groß und präsent. Wenn das Gegenüber, was er als Bedrohung eingeordnet hat, das Verhalten nicht ändert, also zum Beispiel nicht stehen bleibt oder einen großen Bogen um ihn macht, dann starten Herdenschutzhunde auch einen offensiven Scheinangriff. Das entspricht ihrer Genetik. Das Entscheidende, was vielen Menschen nicht so klar ist, ist dass sie im Vergleich zu anderen Schutzhunden niemanden brauchen, der ihnen den Auftrag dazu gibt. Sie treffen selbstständig Entscheidungen und ordnen auch eigenständig ein, wer oder was eine Bedrohung darstellt.
Sie sind laut und präsent und agieren eigenständig. Dieses Verhalten lässt sich vom Menschen nur schwer lenken. Man kann es üben, aber dieses Verhalten liegt den Herdenschutzhunden in den Genen und ist für sie etwas absolut Wichtiges.
Laut Tierschutzvereinen ist die Vermittlung von Herdenschutzhunden und Mixen schwierig, denn viele Menschen informieren sich vorab nicht ausreichend. Foto: VETO
Genau dieses Verhalten kann aber bei Adoptant:innen schnell zur großen Herausforderung werden. Worauf müssen sich Menschen einstellen, die einen Herdenschutzhund oder Mix aus dem Tierschutz aufnehmen?
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Herdenschutzhunde und Herdenschutzhund-Mixe nicht so ticken wie wir es von vielen Familien- oder Begleithunden kennen und erwarten. Im Vorfeld muss man sich bewußt machen, wofür diese Rassen gezüchtet wurden und wie man sie bestmöglich abholen kann. Gerade bei Hunden aus dem Tierschutz wissen wir oft nicht, was vorher in seinem Leben passiert ist.
Herdenschutzhunde binden sich meist nur bedingt. Ihre Bindungungsfähigkeit ist anders als die von Labrador, Retriever und Co. Diese Rassen möchten mit dem Menschen arbeiten. Ein Herdenschutzhund möchte durchaus für den Menschen arbeiten, aber nicht unbedingt mit ihm zusammen. Er entscheidet selbst, was er tut.
Hat nun ein Hund aufgrund schlechter Erfahrungen in der Prägezeit nicht gelernt, Bindung aufzubauen, ist das eine weitere Herausforderung. Hinzu kommt, dass viele dieser Hunde aus einer sogenannten Arbeitslinie stammen, das bedeutet, dass ihre Vorfahren genau für den Zweck des Beschützens gezüchtet wurden und nicht, um mit dem Menschen zusammenzuleben.
Wenn ich also einen Herdenschutzhund oder Mischling aus der Türkei oder auch Rumänien aufnehme, der diese Eigenschaften hat, muss ich mich als Mensch bewusst damit beschäftigen. Mit Ritualen und Leitlinien kann es dem Menschen gelingen, dem Hund Stress zu nehmen und gut mit ihm zu leben. Das ist alles machbar, aber man muss sich intensiv mit diesen Hunden beschäftigen, die eben etwas anders ticken.
Damit der Hund eine reale Chance hat und die Menschen ihm gerecht werden können, rate ich immer dazu, sich im Vorfeld sehr genau zu informieren.
Das klingt für mich so, als wäre eine gewöhnliche Hundeschule auch nicht das Richtige für diese Hunde.
Richtig. Viele Hundeschulen machen wirklich ganz tolle Arbeit. Aber das ist nicht der Punkt. Ein Herdenschutzhund entscheidet eigenständig, das bedeutet, dass seine Motivierbarkeit anders ist als bei den sogenannten „Will-to-Please“-Hunden. Wir Menschen haben einen gewissen Anspruch an einen Hund und gewisse Erwartungen. Herdenschutzhunde erfüllen das oft nicht. Kommandos befolgen, Rückruf und so weiter sind bei Herdenschutzhundne nur bedingt machbar.
Natürlich muss auch ein Herdenschutzhund das Nötigste lernen, was wir eben im Alltag brauchen. Doch typisch für einen Herdenschutzhund ist, dass er immer „ja, aber“ sagt. Sie stellen die Entscheidungen und Wünsche des Menschen grundsätzlich in Frage. Die Aufgabe des Menschen ist es, eine Balance zu finden, die Mensch und Tier gerecht wird. Mit Ritualen und klaren Regeln ist vieles möglich.
Wie sieht es mit den Haltungsbedingungen aus? Was ist der Optimalfall für einen Herdenschutzhund?
Herdenschutzhunde sind sehr groß und sehr kräftig. Das heißt, eine Wohnung im dritten oder vierten Stock wäre nicht so geeignet. Sie haben ein großes Teritorialverhalten und eine große Individualdistanz, der man gerecht werden muss. Es muss nicht unbedingt der abgelegene Bauernhof sein, aber generell ist der ländliche Bereich gut für diese Hunde.
Aus verhaltenstherapeutischer Sicht ist das Wichtigste, dass die Hunde integriert sind. Sie sollten schon eine Aufgabe haben, aber eben auch die Integration in eine soziale Gruppe, zum Beispiel die Familie. Überlässt man den Hund im Garten oder auf dem Grundstück sich selbst, würde er sehr, sehr viel bellen und alles kommentieren – auch Dinge, die eigentlich sehr weit weg und nicht in seinem Bereich sind. Dieses angeborene Verhalten ist durch den Menschen nicht kontrollierbar, wenn der Hund nicht integriert ist. Mit Kontrolle meine ich übrigens nicht, dass der Mensch „Aus!“ ruft, sondern dass er den Hund begleitet, vielleicht mit ihm ins Haus geht und er sich wieder beruhigen kann. Das ist wichtig und nicht zu unterschätzen.
Die Hunde suchen sich gerne einen erhöhten, strategisch günstigen Punkt, von dem aus sie alles überblicken können. Oft wirken sie dabei entspannt, doch sie sind immer konzentriert. Aufgabe der Bindungsperson ist es, den Hund auch mal zur Ruhe kommen zu lassen, ihm also zu sagen, wann er ins Haus gehen soll, um sich auszuruhen.
Suboptimal wären also viele Treppen in einem Mietshaus mit vielen Geräuschen und anderen Reizen, auf die die Hunde reagieren. Im ländlichen Bereich fühlt sich ein Herdenschutzhund in der Regel wohler, aber der Mensch muss lenken, wie viel der Hund von seinem angeborenen Territorialverhalten auslebt. Der Hund soll schon eine Aufgabe haben, aber nicht sich selbst überlassen sein.
Herdenschutzhunde lieben es, alles im Blick zu haben. Doch sie sollten dabei nie sich selbst überlassen werden. Foto: Ronny Kratz
Können Herdenschutzhunde Familienhunde sein?
Grundsätzlich ist kein Hund gefährlich. Wir müssen unterscheiden zwischen offensiv agierenden Hunden und defensiv agierenden Hunden. Unabhängig von Geschlecht und Rasse haben wir bei allen Hunden individuelle Temperamentstypen. Unter den Herdenschutzhunden gibt es welche, die richtig gut in eine Familie mit Kindern passen, es gibt aber auch so richtige Einzelgänger, die sich nur an einen Menschen binden.
Der Punkt ist also nicht die Rasse, sondern die Frage „Wie tickt die Familie?“. Die Familien muss sich die Frage stellen, welche Ansprüche sie an einen Familienhund hat. Ein Erwachsener muss das Verhalten des Hundes in der Familien lenken, denn der Hund wird seine Gruppe, also auch die Kinder in der Familie, beschützen. Damit Besuch von anderen Kindern möglich ist und alle sich frei bewegen können, muss das ritualisiert und gelenkt werden.
Herdenschutzhunde sind gerne mit ihrer Familie, ihrem sozialen Verband, unterwegs. Wandern oder spazieren gehen machen sie gerne. Das ist in der Regel kein Problem. Habe ich aber den Anspruch, dass mein Familienhund überallhin mit muss, kann das einen Herdenschutzhund durchaus überfordern. Das kann für ihn einfach zu viel sein. Bei sehr agilen und sportlichen Menschen ist der Herdenschutzhund nicht an der richtigen Stelle.
Viele Herdenschutzhunde und Mischlinge können sehr gut in Familien mit älteren Kindern integriert werden. Foto: Ronny Kratz
Was sind die größten Irrtümer von Menschen, die einen Herdenschutzhund aufnehmen?
In meiner verhaltenstherapeutischen Praxis fallen mir zwei Punkte besonders auf: Es gibt Leute, die sagen, dass sie viel Hundeerfahrung haben. Das ist natürlich gut, aber dadurch befassen sie sich oft zu wenig mit den typischen Eigenschaften eines Herdenschutzhundes. So nach dem Motto: Wir kriegen das schon hin! Ich sage auch nicht, dass diese Menschen es dann nicht hinkriegen, aber um dem Hund gerecht zu werden, müssen sie sich eben intensiv mit ihm auseinandersetzen.
Der zweite Irrtum ist das, was ich eben schon angerissen habe. Die Menschen berichten mir, dass der Hund sich viel und gerne im Garten aufhält, sich eine Kuhle buddelt oder auf einer erhöhten Position steht. Das lassen die Menschen dann auch zu, weil sie annehmen, dass es gut für das Tier ist. Doch diese Hunde haben zu wenig Ruhephasen, was dann zu Verhaltensauffälligkeiten führt. Sie sind oft gestresst und zeigen ein gesteigertes Aggressionsverhalten.
Was ist aus deiner Sicht das Schöne daran, mit Herdenschutzhunden zu leben?
Wenn man ein Mensch ist, der sich auf diese speziellen Hunde einlassen kann, der keinen Hund möchte, der einfach nur funktioniert und der dieses „ja, aber“ nicht als Provokation versteht, dann sind Herdenschutzhunde mit ihrer besonderen Art der Bindung über Beständigkeit und Integration sehr, sehr loyale Begleiter. Sie gehen für einen durchs Feuer. Wenn man Eigenständigkeit mag, ist ein Herdenschutzhund schon wirklich etwas Besonderes!
Vielen Dank für das Gespräch, Ines!
Mehr Infos über die verhaltenstherapeutische Arbeit von Ines Grunwald gibt es auf ihrer Website.
Checkliste für die Aufnahme eines Herdenschutzhundes
Ausreichend Platz: Herdenschutzhunde und Mixe sind große, schwere Hunde mit einem ausgeprägtem Territorialverhalten. Das neue Zuhause sollte zur Statur und den Bedürfnissen des Hundes passen.
Eine Aufgabe: Herdenschutzhunde wurden gezüchtet, um Nutztiere oder Grundstücke zu bewachen. Dieses Verhalten liegt in ihren Genen und kann zwar gelenkt, aber nicht abtrainiert werden. Erhält der Hund im neuen Zuhause keine Aufgabe, wird er sich selbst eine suchen.
Integration: Der Hund muss in den sozialen Verband, zum Beispiel in die Familie, integriert werden. Nur so kann er eine Bindung zu einer oder zu mehreren Personen aufbauen.
Rituale und Regeln: Im Gegensatz zu anderen Rassen, arbeiten Herdenschutzhunde nur bedingt mit dem Menschen zusammen. Ihre Erziehung unterscheidet sich daher von der anderer Hunde. Mit klaren Regeln und Ritualen kann aber auch das Verhalten eines Herdenschutzhundes gelenkt werden.
Flexibilität und Akzeptanz: Weil Herdenschutzhunde extrem selbstständig agieren, entscheiden sie oft selbst, ob sie den Anweisungen des Menschen folgen. Dieses Verhalten ist angeboren und sollte akzeptiert werden.
Selbstkritische Vorbereitung: Jeder Hund ist anders! Informiere dich über die Vorgeschichte des Hundes, den du aufnehmen möchtest und stell dir die Frage, welche Ansprüche du an dein neues Familienmitglied hast. Nur so kannst du dem Herdenschutzhund und auch dir gerecht werden.