Magazin · Tierschutz aktiv · 12. Juni 2024
· 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert am 1. August 2024
Straßenhunde in der Türkei in Gefahr: Neues Gesetz ebnet Weg zur Tötung
Das türkische Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das vorsieht, dass alle Straßenhunde eingefangen werden. In bestimmten Fällen ist die Tötung der Tiere erlaubt. Wir von VETO kritisieren dieses Vorhaben scharf und zeigen, warum die Pläne nicht nur grausam, sondern auch wirkungslos sind.
Straßenhunde gehören vielerorts in der Türkei zum Stadtbild. Die Befürworter des Gesetzes möchten sie loswerden. Foto: VETO
Das türkische Parlament hat eine Gesetzesänderung beschlossen, die verheerende Folgen für die heimatlosen Hunde im Land hat. Unzähligen Straßenhunden in der Türkei droht wohl künftig der Tod. Die derzeitige Gesetzgebung, die das Fangen, Kastrieren und Freilassen der Straßenhunde vorsieht, wird rückgängig gemacht.
Trotz heftiger Proteste: Türkisches Parlament beschließt umstrittenes Gesetz
Das neue Gesetz sieht Folgendes vor: Die Kommunen werden dazu verpflichtet, sämtliche Straßenhunde einzufangen und in Tierheimen unterzubringen. Hunde, die als krank oder aggressiv eingestuft werden oder eine „Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier“ darstellen, sollen eingeschläfert werden. Veterinäre sollen darüber entscheiden.
In einem ursprünglichen Gesetzesentwurf war noch vorgesehen, dass die Hunde in den staatlichen oder kommunalen Tierheimen für einen Monat online zur Adoption angeboten werden. Wenn die Tiere in diesen 30 Tagen nicht vermittelt werden, sollten sie eingeschläfert werden. Die durch die Tötung freigewordenen Plätze sollten dann mit eingefangenen Straßenhunden wieder aufgefüllt werden, denen das gleiche Schicksal drohte, wenn sie nicht innerhalb eines Monats adoptiert werden.
Nach heftigen Protesten auf nationaler und internationaler Ebene ruderte die Regierung zurück und überarbeitete den Gesetzesentwurf. Doch an der Tatsache, dass unzähligen Straßenhunden nun wohl der Tod droht, ändert die Neufassung nichts.
Die Türkei schlägt mit dem neuen Gesetz einen verheerenden Weg ein. Die Regierung wendet sich von der humanen Methode ab, die Population mit Kastrationen einzudämmen. Stattdessen warten auf die Tiere künftig Vernachlässigung und der Tod.
Tierheime jetzt schon überfüllt: Was passiert mit den eingefangenen Straßenhunden?
Wenn die Anzahl an Straßenhunden mit der Menge an Tierheimplätzen, die derzeit im Land zur Verfügung steht, gegenübergestellt wird, wird schnell klar: Die Rechnung geht nicht auf.
Nach Aussagen der Regierung gibt es derzeit vier Millionen Straßenhunde in der Türkei. Dem gegenüber stehen landesweit gerade einmal 100.000 Tierheimplätze. Medienberichten zufolge besitzen 1.200 der 1.389 Gemeinden in der Türkei überhaupt kein Tierheim.
Die vorhandenen kommunalen Einrichtungen sind jetzt bereits vielerorts überfüllt. Die meisten Tierheimtiere fristen ihr Dasein, ohne jemals die Chance auf ein Leben in einer liebevollen Familie zu bekommen. Denn die Wahrscheinlichkeit, adoptiert zu werden, ist äußerst gering. Das wissen die Tierschutzvereine, die VETO angeschlossen und in der Türkei aktiv sind:
„Es gibt in unserer Gesellschaft kein Verständnis für die Adoption von Tieren aus Tierheimen. Diejenigen, die dies tun, sind sehr außergewöhnlich und wenige.“
Wenn man diese Zahlen betrachtet, wird klar: Es gibt in den Tierheimen keinen Platz für die vielen Straßenhunde und so ist zu befürchten, dass das neue Gesetz unweigerlich zur Massentötung der Tiere führt.
Die Gesetzesänderung sieht vor, dass die Gemeinden bis 2028 weitere Unterbringungsmöglichkeiten für die Tiere schaffen. Sämtliche Straßenhunde sollen jedoch schon jetzt eingefangen werden.
Die Zustände in den vorhandenen staatlichen Tierheimen sind derweil katastrophal. Tierschützende berichten, dass die Hunde dort oft vernachlässigt und misshandelt werden. Sie würden längere Zeit sich selbst überlassen, kaum gefüttert oder medizinisch versorgt werden. Viele sterben in den Zwingern.
„Es sind schlimme Orte, die so viel Elend zeigen. Viel zu wenig Platz, kein Futter, sie werden einfach vergessen und es kommt zu Beißereien zwischen den Tieren.“
Völlig abgemagert und vernachlässigt: Die Tiere in den staatlichen Tierheimen fristen meist ein jämmerliches Dasein. Foto: VETO
An diese Orte sollen nun sämtliche Straßenhunde gebracht werden. Ob durch die sofortige Tötung oder in Folge der Vernachlässigung in den überfüllten Tierheimen. Klar ist: Auf unzählige Straßenhunde wartet mit Beschluss dieses Gesetzes wohl der frühzeitige Tod. Und das, obwohl sich bereits vielerorts gezeigt hat, dass das nun per Gesetz vorgeschriebene Vorgehen in Bezug auf Straßentiere nicht wirksam ist.
Warum das Einfangen und Töten von Straßentieren langfristig nicht zu einer geringeren Population führt
Jedes Revier bietet Straßentieren eine bestimmte Anzahl an Ressourcen, die ihnen als Lebensgrundlage dient. Trinkwasser, Nahrungsangebote, jedoch auch genügend Platz und Rückzugsorte sind hart umkämpft. Gerade die Sterblichkeitsrate junger und geschwächter Tieren ist deshalb hoch, sodass die Population automatisch begrenzt wird.
Mit dem nun beschlossenen Gesetz werden die Plätze und Ressourcen jener Tiere frei, die gefangen werden. Mehr Jungtiere können dementsprechend überleben, Artgenossen aus benachbarten Gebieten siedeln sich an oder ausgesetzte Haustiere besetzen die frei gewordenen Plätze. Nach kurzer Zeit wäre die Anzahl der Straßenhunde in der Türkei genauso hoch wie vor dem Einfangen der Tiere. Anschließend steigt die Population noch weiter an, weil die Tiere sich untereinander paaren.
Noch immer sind zu wenig Straßenhunde kastriert
Um die Population der Straßenhunde langfristig zu beschränken und das große Leid auf den Straßen zu verhindern, bedarf es vielerorts eines Umdenkens in der Bevölkerung. Die Tiere müssen als fühlende Lebewesen und als Teil der Gesellschaft anerkannt werden, für die der Mensch verantwortlich ist.
„Unserer Meinung nach wird dieses Gesetz keinesfalls dazu beitragen, die Population von Straßenhunden in der Türkei zu reduzieren, da immer neue unkastrierte Hunde ausgesetzt werden und neue Welpen geboren werden.“
Noch immer kommt es auf den Straßen in der Türkei häufig zu Nachwuchs, da viele Tiere unkastriert sind. Foto: VETO
Darüber hinaus bedarf es flächendeckender Kastrationen, um zu verhindern, dass immer neue Tiere in das leidvolle Leben auf der Straße hineingeboren werden.
Das bisherige Tierschutzgesetz in der Türkei sah vor, dass die Straßenhunde von Seiten der Kommunen gefangen, kastriert und wieder freigelassen werden. Dass sich die Population der Straßenhunde in der Türkei durch das Gesetz nicht beschränken ließ, liegt wohl daran, dass nicht ausreichend Tiere kastriert wurden.
„Die Kommunen landesweit sind ihren Aufgaben bezüglich Kastrationsaktionen seit Jahren nie wirklich nachgekommen. Wenn sich unsere Tierschützer vor Ort mit den Tierheimen in Verbindung gesetzt haben, beispielsweise bezüglich des Einfangens und Kastrierens von unzutraulichen Hunden, wurde ihnen jegliche Hilfe verwehrt. Sie mussten sich selbst darum kümmern, diese Tiere einzufangen und zu kastrieren.”
Medienberichten zufolge, die sich auf Aussagen der Regierung berufen, sind mittlerweile knapp eine Million der Straßenhunde gechippt und registriert. Um die Population stabil zu halten, sei es nötig, 70 Prozent der Tiere zu sterilisieren. Zuletzt seien pro Jahr aber nur etwa 260.000 Hunde sterilisiert worden.
„Die Hunde sollten nach Gesetz für Kastrationen eingefangen, ohrmarkiert und freigelassen werden, aber auch die Hunde mit Ohrmarkierung waren trächtig. Das bedeutet, um Kosten zu sparen, werden sie nur markiert, sie werden weder geimpft noch kastriert.“
So kannst du den Straßentieren in der Türkei helfen
Sowohl von politischer Seite als auch von der Bevölkerung bekommt die türkische Regierung für ihr Vorhaben starken Gegenwind. Tausende Menschen in der Türkei haben bereits lautstark gegen das neue Gesetz protestiert.
Die größte Oppositionspartei CHP kündigte an, vor den Obersten Gerichtshof der Türkei zu ziehen, um das Gesetz zu Fall zu bringen.
Werde auch du laut und verschaffe deinem Unmut über die Gesetzesänderung Gehör.
Gleichzeitig kannst du die Tierschutzvereine vor Ort dabei unterstützen, so viele Straßenhunde wie möglich vor dem Tod zu bewahren.
Seit Beschluss des neuen Gesetzes sind sie Tag und Nacht damit beschäftigt, so viele Straßenhunde wie möglich einzufangen und in notdürftigen Auffangstationen unterzubringen. Hilf jetzt mit und rette Leben!
Die Situation in der Türkei ist dramatisch. Sie zeigt, zu welch fatalen Folgen der immerwährende Konflikt zwischen Straßentieren und Menschen führen kann.
Die Regierung rechtfertigt die Maßnahmen mit der Gefahr, die von den Straßenhunden für Menschen ausginge – durch Angriffe, Tollwut oder Verkehrsunfälle, die die Tiere verursachen würden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan betonte laut Medienberichten, es gehe um die „Sicherheit des Volkes“.
Kritiker sehen in der Diskussion über die Straßenhunde auch eine politische Komponente und den Versuch der Regierung, von anderen Problemen wie der hohen Inflation abzulenken, das Land weiter zu polarisieren und den von der Opposition geführten Kommunen das Leben schwer zu machen. Bei den vergangenen Kommunalwahlen musste die nationalkonservative Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Schlappe einstecken. Vor allem in den Metropolen gewann die Oppositionspartei CHP und stellt daher die Bürgermeister.
Ganz gleich, welche Motivation dahinter stecken mag: Eins wird von Seiten der Befürworter des Gesetzes vergessen: Die vielerorts hohe Population und das Leid der vielen Straßentiere sind ein menschengemachtes Problem. Der Konflikt kann langfristig nur gelöst werden, indem dauerhaft Verantwortung übernommen wird – und zwar auf humane Weise. Damit diejenigen, die unverschuldet in diesen Konflikt geraten sind, nicht zu einem weiteren Todesopfer werden.
„Warum ist die Logik immer geprägt von der Frage ‚wie können wir zerstören‘ und nicht von der Frage ‚wie können wir ihnen ein besseres Leben ermöglichen‘? Haben diese Lebewesen nicht das Recht zu leben?“